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blog 0082 - rechtfertigung mehrzahl

12.11.2014 07:53

der mensch kann leben und gesund sein,
ohne dass er zu seiner ernährung tiere tötet.

wenn er also fleisch isst,
so ist er mitschuldig
am morde von tieren,
nur um seinem geschmack zu schmeicheln.

so zu handeln, ist unmoralisch.
das ist so einfach und unzweifelhaft,
dass es unmöglich ist,
nicht beizustimmen.

aber weil die mehrzahl
noch am fleischgenuss hängt,
so halten ihn die menschen
für gerechtfertigt und sagen lachend:
„ein stück beefsteak
ist aber doch eine schöne sache
und ich werde es heute mittag
mit vergnügen essen.“

die menschen gehen lieber zugrunde,
als dass sie ihre gewohnheiten ändern.

ein guter mensch,
der seine irrtümer nicht erkennt
und versucht, sie zu rechtfertigen,
kann zum unhold werden.

(leo n. tolstoi, 1828-1910)


de.wikipedia.org/wiki/Lew_Nikolajewitsch_Tolstoi

edith hanke:

ich habe bei tolstoi nach textstellen gesucht,
in denen er vielleicht eine pflanze oder ein tier
intensiv und liebevoll beschreibt.

eine solche stelle habe ich nicht gefunden.

stattdessen gibt es personenbeschreibungen,
die eine vergleichbare intensität besitzen,
so z.b. die darstellung des einfachen soldaten
piaton karatajew in „krieg und frieden".

karatajew stellt keine fragen,
sondern lebt nach seinem inneren gesetz,
er ist freundlich und gütig
zu menschen und tieren
und nimmt das leben und den tod hin,
wie sie nun einmal sind.

er ist das idealbild tolstois:
ein natürlicher, einfacher mensch
im einklang mit sich und seiner umgebung,
der frei ist von grüblerischen fragen
und ich-bezogenen gefühlen.

findet sich bei tolstoi ein niederschlag dessen,
was christian wagner bezeichnet hat als die
„möglichste schonung für alles lebendige"?

tolstoi setzte sich für die vegetarische bewegung ein
die schonung der tiere wird von ihm aber
auf seine art gefordert.

er besucht einen schlachthof in tula und
beschreibt die maschinelle massentötung der tiere.
sein blick richtet sich auf einen
besonders starken und schönen stier,
der den kampf gegen die schlächter aufnimmt
und sich wehrt, aber letztlich unterliegt.

die szene wird ganz realistisch
und naturgetreu beschrieben,
und nur kurz blitzt das mitleid
mit der sterbenden kreatur durch,
denn dem autor tolstoi geht es hier
nicht vorrangig um das sterbende tier,
sondern um die schlächter,
die menschen, die dieses tier töten
und vor allem um die vielen menschen,
die das fleisch der tiere konsumieren,
aber nicht mitanschen wollen,
wie diese tiere sterben müssen.
der text tolstois ist sehr modern:
was sagt eine solche art der fliessbandtötung
über die gesellschaft und die
in ihr lebenden menschen aus?

tolstois aufruf „du sollst nicht töten!"
bezieht zwar auch die tiere ein,
richtet sich aber zuallererst an die menschen,
die aufhören sollen,
sich aus nationalen, patriotischen oder
anderen egoistischen gefühlen heraus
gegenseitig umzubringen.

die sorge um den moralischen zustand
der menschen macht tolstoi
zu einem politischen und gesellschaftskritischen autor.

(edith hanke: aufbrüche, seitenpfade, abwege)