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blog 0042 - zum heulen

04.10.2014 13:35

ich schämte mich, als ich zum ersten mal im tierpark
die grossen sibirischen tiger eingesperrt sah,
die über mich hinwegschauten.

mir stieg das blut in den kopf, dass ich vermeinte,
er würde mir zerplatzen, und lief davon.

bald darauf aber kehrte ich zum käfig zurück und bemühte mich,
ihnen klar zu machen, dass ich an ihrer gefangenschaft nicht schuld sei;
aber sie glaubten mir nicht, sie wollten mich nicht hören, sie meinten,
ich hätte auch wohl eintrittsgeld bezahlt, den zins,
darum sie gefangen sassen.

da begann ich entsetzlich zu weinen und flehte,
dass ich doch möchte die tigersprache kennen;
aber ich musste ihnen endlich auf deutsch sagen,
dass ich sie sehr, sehr liebte,
dass ich zu ihnen wollte, um ihnen das fell zu lecken,
und dass sie mich auch fressen dürften - nur glauben sollten sie mir,
dass ich sie lieb hätte und nicht schuld wäre an ihrer gefangenschaft.

ich weinte so sehr vor ihnen und wollte sie befreien;
aber ich sah wohl ein, dass es nicht anging, man würde sie erschiessen.

so bin ich denn noch zwei- oder dreimal an ihrem käfig gewesen
und habe ihnen meine ganze traurigkeit angeboten,
so möchten fröhlich sein;
aber sie lehnten es ab.

(hans hennny jahnn, 1894-1959)

www.hans-henny-jahnn.de/index.html

der deutsche schriftsteller und publizist war vor allem wegen seiner
drastisch grenzüberschreitenden literarischen darstellungen
von sexualität und gewalt stark umstritten.

jahnn bezeichnete den menschen als „schöpfungsfehler“.

in seinen romanen, aufsätzen und reden beschrieb er
das ausmass an grausamkeit und destruktivität,
dessen der mensch fähig sei.

rettung suchte er in der natur, deren „schönheit und harmonie“ er
in landschaftsschilderungen (romantrilogie „fluss ohne ufer“) ausdrückte,
gleichzeitig zeichnete er die grausamkeit der natur nach.

versöhnung könne allein die kunst bewirken, insbesondere die musik.
diese auffassung sei der antrieb seines schreibens.

ulrich greiner zum 100. geburtstag des autors u.a.:

strukturmerkmale seiner literarischen werke beruhen
auf einer „reduktion des menschen“ auf das biologische.
jahnn sehe den menschen als teil der natur,
der nicht über das tier erhaben sei,
vielmehr wie dieses schmerz empfinde.

für jahnn sei das leben ein „universaler und permanenter schmerz“,
den tiere ohnmächtig erduldeten,
„während der mensch planvoll und umsichtig schmerz zufügt:
sich selber und seinesgleichen, den tieren und der gesamten natur.
schlachthof und krieg sind die beiden seiten eines
unbegreiflichen willens zur lebensvernichtung.“

jahnns werk ist ein „protest gegen das anthropozentrische weltbild“.

der 1935 bis 1947 entstandene roman „fluss ohne ufer“
folge nicht literarischen, sondern musikalischen gesetzen.
er sei wie eine symphonie komponiert.